«Er nimmt das Telefon nie ab. Was ist nur mit ihm los?» Die Stimme meiner Schwägerin tönte besorgt, denn mein Schwiegervater war schon vor drei Stunden mit dem Bus von ihr weg heimgefahren. Ich versprach, bei ihm vorbeizugehen. Tatsächlich, er war nirgends im Haus zu finden, und Nachbarn hatten ihn auch nicht heimkommen sehen. Mit einer Taschenlampe machte ich mich nun auf den nahen Waldweg, den er noch fast täglich abstöckelte. Auch dort – nicht die geringste Spur des über Neunzigjährigen. Die Verwandtschaft geriet in Telefonaufruhr, denn der Gedanke, dass er allenfalls verunfallt sein könnte und diese kalte Nacht draussen verbringen müsste, war schlimm. Vorsorglich erkundigten wir uns auch bei der Stadtpolizei. Stunde um Stunde verrann, ohne eine Rückmeldung.

Endlich ein Telefon. Es war nicht die Polizei, sondern eine freundliche Stimme vom Stadtbus Winterthur: Ob sie an der richtigen Adresse seien? Einem ihrer Buschauffeure sei an der Endstation Töss ein alter Mann auf einem Bänklein aufgefallen, ganz zusammengesunken und frierend. Der habe kaum noch Name und Adresse nennen können. Nach Rücksprache mit der Leitstelle habe ihn der Chauffeur mitgenommen. Jetzt sei er bei ihnen am Hauptbahnhof. Wie waren wir erleichtert, als wir ihn wohlbehalten, in Decken gehüllt, dort abholen konnten.

Anderntags hat sich herausgestellt, dass wegen Umbauarbeiten am Bahnhofplatz die Station von Bus Nr. 4 in die Breiti verschoben worden war. Der Schwiegervater war dadurch verwirrt worden, ist in einen falschen Bus eingestiegen, dann herumgeirrt und völlig erschöpft im Bushäuschen halb eingeschlafen. Gesundheitliche Folgen hat seine Irrfahrt im Stadtnetz nicht gehabt. Bei den Helfenden von Stadtbus Winterthur hat er sich persönlich bedanken können und ist – nicht zuletzt dank deren Achtsamkeit –  noch über 100-jährig geworden.

Autor: Hans-Jakob T.
September 2020